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Sexuelle Übergriffe auf der Wiesn – Opferschutz auf Oktoberfest am Limit

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Ein junger Mann kippt sich auf dem Oktoberfest Bier über die Lederhose. Er trägt ein T-Shirt einer sexualisierten Bavaria.
Das kollektive Besäufnis auf der Wiesn befeuert die „sexualisierte Grundatmosphäre“. © CHRISTOF STACHE/AFP

„Täglich“ haben Frauenschutzorganisationen auf dem Oktoberfest mit sexueller Gewalt zu tun. Ihre Kämpfe scheitern häufig an denselben Dingen.

München – Auf dem Oktoberfest wird gegrabscht, belästigt und im schlimmsten Fall vergewaltigt. Präventions- und Opferschutzverbände tun an jedem Wochenende ihr Möglichstes, Betroffene zu schützen. Doch am Ende hakt es am Geld und anscheinend auch an der Zusammenarbeit mit dem Sicherheitspersonal.

Auf der Wiesn herrsche eine „sexualisierte Grundatmosphäre“, stellte Manuela Soller, Sozialpädagogin von der Opferschutz-Initiative „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“, im Gespräch mit FR.de von Ippen.MEDIA fest. Eine Security-Mitarbeiterin, die anonym bleiben will, bezeichnete die „Awareness“ ihrer Kolleg:innen im Umgang mit sexuellen Übergriffen auf Frauen als „unterirdisch“. Sozialarbeiter Patrick Hey vom Präventionsprojekt „WiesnGentleman“ sieht die Wiesn als eine Veranstaltung, auf der „Alkohol und Enthemmung zentral sind“.

„Jeden Tag hatten wir Fälle sexueller Gewalt“

Manuela Soller, Initiative „Sichere Wiesn für Frauen und Mädchen“

Initiative „Sichere Wiesn“ bietet Safe Space für Frauen und Mädchen auf dem Oktoberfest

Manuela Soller, organisiert mit der Initiative „Sichere Wiesn“ einen Safe-Space für Frauen und Mädchen – einen sicheren Rückzugsraum. Seit Jahrzehnten leisten zwei Initiativen Präventions- und Opferschutzarbeit auf der Wiesn. Die „Sichere Wiesn“ organisiert den Safe-Space, in dem sich Frauen und Mädchen Hilfe suchen können. „Jeden Tag hatten wir Fälle sexueller Gewalt“, sagt Organisatorin Soller über die erste Woche. Die Betroffenen bekommen im Safe-Space Hilfe von Fachfrauen, und Ehrenamtlichen.

Der Rückzugsraum steht explizit auch für Frauen und Mädchen offen, die von ihrer Gruppe getrennt wurden, oder deren Handy leer oder verloren sei. Das sei besonders wichtig, sagt Soller, da durch Desorientierung auf dem „riesigen und unübersichtlichen Gelände“ viele gefährliche Situationen entstehen können. Gerade deshalb, sei auch die Zusammenarbeit mit den Securitys und der Polizei so wichtig. Soller und Hey erzählen beide von Menschen, die berauscht und orientierungslos zwischen Zelten liegen. Und teils liegen gelassen würden. Diese Menschen sind dann auf Zivilcourage und die Menschen, die das Gelände patrouillieren, angewiesen. Auch deshalb geht die Initiative Jahr für Jahr ins Gespräch mit den Sicherheitsdiensten. „Der Kontakt ist gut“, sagt Soller, „aber wie viel unten, bei den einzelnden Mitarbeitenden ankommt, können wir nicht sagen“.

Oktoberfest in München: Wiesn-Publikum „von vornherein auf Kontrollverlust gepolt“

Davon erzählt eine Security-Mitarbeiterin im Gespräch mit Ippen.MEDIA: Den Pin der „Sicheren Wiesn“ trügen „eigentlich nur“ ihr Vorgesetzter und sie. Die junge Frau arbeitet im Außenbereich der Wiesn und auch nur in Tagschichten: „Nachts ist mir das Risiko zu hoch.“ Das Sicherheitspersonal bekomme einen kurzen Oktoberfest-Crash-Kurs, bevor es losgeht. 20 Minuten lang, online, mit einer Multiple-Choice-Prüfung am Ende. Sicherheit von Frauen, sei kein gesondertes Thema. Die „Sichere Wiesn“ werde „vielleicht mal am Rande erwähnt“, sagt sie. Ein Hauptproblem der Ordnerin seien, „Männer, die glauben, sie wissen alles besser“. Zu dem, was in den Zelten passiert, könne sie nicht viel sagen – getrennte Teams. Das Publikum, das sie auf der Wiesn sehe, sei „von vornherein auf Kontrollverlust gepolt“.

Sexuelle Gewalt auf der Wiesn 2023

Am Montag, 25. September, zog die Initiative „Sichere Wiesn“ eine Bilanz der ersten Wiesn-Woche: 11 Frauen suchten demnach Hilfe, weil sie teils schwere sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren haben. In sieben Fällen bestehe der Verdacht, dass Frauen K.-o.-Tropfen verabreicht wurden. Ein „auffälliger“ Anstieg im Vergleich zu 2019. Zwei angezeigte Vergewaltigungen und 34 Sexualstraftaten gibt die Münchner Polizei in ihrer Halbzeitbilanz vom Sonntag, 24. September, an. Ein leichter Anstieg gegenüber der letzten präpandemischen Wiesn 2019. Polizei und „Sichere Wiesn“ loben die Zusammenarbeit zum Schutz von Frauen. Die Polizei spricht von erhöhter „Sensibilität“ und „Anzeigebereitschaft“. Soller betont, das „riesige Dunkelfeld“ bei Sexualstraftaten. Oft suchten sich Opfer aus Scham keine Hilfe und noch seltener käme es zur Anzeige. Laut der Stadt München strömten in der ersten Woche 3,4 Millionen Menschen auf die Theresienwiese.

Der Vergleich zeigt, auf der Wiesn werden mehr Sexualstraftaten angezeigt als auf ähnlichen Volksfesten: Auf dem Straubinger Gäubodenfest gab es dieses Jahr laut Polizeiangaben auf 1,3 Millionen Gäste insgesamt angezeigte 8 Sexualdelikte. Auf der Fürther Michaeliskirchweih wurde zuletzt 2019 eine Vergewaltigung angezeigt. Im vergangenen Jahr, war eine Körperverletzung dort die einzige verzeichnete Straftat – das bei 1,5 Millionen Besucher:innen.

„Es gibt Männer, die sich sagen, hier auf der Wiesn, darf ich übergriffig sein“, sagt Patrick Hey, Abteilungsleiter Prävention beim Münchner Jugendhilfeträger Condrobs. Daher rief der Verein 2013 das Projekt „WiesnGentleman“ für Gewaltprävention und Zivilcourage ins Leben. Am Esperantoplatz erinnert sein Team Männer daran, dass „Nur ein Ja ein Ja ist“. Soller unterstreicht, dass einem sexuellen Übergriff „niemals die Betroffene Schuld ist“, sondern nur der Täter. Deshalb sei es besonders wichtig, Männer zu sensibilisieren, betonen Soller und Hey. Bei jüngeren Männern stellt Sozialarbeiter Hey ein „erhöhtes Bewusstsein“ fest, die gesellschaftliche Debatten über „toxische Männlichkeit“ bewirkten etwas. Doch Luft nach oben sei trotzdem noch, da stimmen Soller und Hey überein.

Patrick Hey und Manuela Soller
Manuela Soller (l.) organisiert den Safe Space der Inititiave „Sichere Wiesn für Frauen und Mädchen“. Patrick Hey erinnert Männer mit dem „WiesnGentleman“ an Grenzen und Zivilcourage. © Condrobs e.V./Amyna e.V.

10000 Euro von der Wiesn-Stiftung an Vereine für Prävention und Opferschutz

„Es steht und fällt mit der Finanzierung“, sagt Hey. Der Safe-Space lebe von „Herzblut und Leidenschaft“ der Ehrenamtlichen, sagt Soller. Weil es personell nicht reiche, könne das Team des „WiesnGentleman“ nur am Esperantoplatz und nicht an den weiteren Zugängen arbeiten. Letztendlich sei es, so Hey eine Frage, wie viel Geld aus der „riesigen Cash-Cow“ Oktoberfest in Gewaltprävention und Opferschutz fließe. Von der Wiesn-Stiftung bekamen beide Projekte dieses Jahr 5000 Euro. Der geschätzte Jahresumsatz der Wirte betrug 2019 300 Millionen Euro. Die Aktion Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen wird von den drei Münchner Vereinen AMYNA e.V., IMMA e.V. und der Beratungsstelle Frauennotruf München gemeinsam getragen und verantwortet. Insgesamt sind 36 Stunden hauptamtlich finanziert, die auf die Vereine aufgeteilt sind. Alles Weitere wird von Ehrenamtlichen und Honorarkräften getragen.  Bei Condrobs zieht man an den Wochenenden Streetworker:innen aus der Partymeile ab. Der Rest komme aus dem Budget des Vereins.

Von eingeschränkten Mitteln erzählt auch die anonyme Ordnerin: „Wir sind eigentlich ständig unterbesetzt.“ Der Personalmangel in der Branche schlage dieses Jahr voll durch. Auch bei der fachlichen Ausbildung zeichnet die Insiderin ein düsteres Bild: Zwar gibt es in Deutschland die Regelung einer „Unterrichtung“ nach der Gewerbeordnung. Auf dem Papier sind die Hürden dort auch hoch und es braucht laut Industrie- und Handelskammer (IHK) 40 Unterrichtstunden und eine Prüfung.

„Ich weiß nicht, ob ich zu einer Sicherheitskraft gehen würde, wenn mir etwas passiert.“ 

Anonyme Ordnerin im fr.de-Gespräch

Doch die Ordnerin erzählt, wie das bei ihr ablief: Die Prüfungsfragen seien vor der Prüfung exakt wie in der Prüfung mit den Prüflingen durchgegangen worden. So sei es eigentlich „nur eine Prüfung, ob man halbwegs Deutsch kann“. Viele Kolleg:innen seien in dem Beruf, weil sie nichts anderes hätten. In ihrem Team ist sie sich unsicher, wer gut mit Betroffenen sexueller Gewalt umgehen könnte. Deswegen fordert sie Verbesserungen in der Ausbildung für diese Situationen ein. Ihr Fazit: „Ich weiß nicht, ob ich zu einer Sicherheitskraft gehen würde, wenn mir etwas passiert.“

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